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Mikrokosmos in Resonanz mit der Natur und dem Universum

Über die indische Architekturlehre Vastu

Feng Shui kennt jeder – aber wem ist das indische Pendant «Vastu» bekannt? Die Architekturlehre aus den vedischen Schriften gilt als die älteste ihrer Art. Trotzdem ist sie hierzulande noch wenig bekannt. Was bedeutet es, nach Vastu zu bauen?

Fabrice Müller, dipl. Feng Shui-Berater INFIS, Geomant, Journalist

Der Eingang liegt im Osten und ist vom Parkplatz her über eine Holzterrasse erschlossen. Holz prägt auch die Fassade des Einfamilienhauses am Rande von Wangen an der Aare. Hier leben Nicole und Michael Sieber mit ihren drei Töchtern. Beim Betreten des Hauses stechen verschiedene Dinge sofort ins Auge: Die rechtsdrehende Eingangstüre. Das grosszügige Entree, das fliessend in den Wohnraum mit offenem Zentrum übergeht. Der Glasboden in der Mitte des Raumes, der den Blick nach oben ermöglicht. Und die gelbe Wandfarbe, die das Auge im Erdgeschoss auf Schritt und Tritt begleitet. Das zweistöckige, rechteckige Flachdachhaus am Finkenweg ist kein gewöhnliches Familiennest. Es wurde nach den Prinzipien der Indischen vedischen Baukunst «Vastu» erbaut. «Wir fühlen uns seit Jahren mit Indien und der vedischen Tradition verbunden», sagt Nicole Sieber, die selber ein Studium zur Ayurveda-Medizinerin absolviert. Deshalb war für das Ehepaar von Anfang klar: Wenn gebaut wird, dann nur mit Vastu.

Eine andere Art zu bauen

Der Planungs- und Bauprozess des Hauses in Wangen an der Aare verlief etwas anders, als man es von herkömmlichen Gebäuden her gewohnt war. Marc Lüllmann von der Vastu Architektur AG in Oberwil-Lieli, arbeitete mit den astrologischen Bezügen der Familie Sieber, um zum Beispiel die passsenden Masse für die Räume zu berechnen. Nicht nur die Wünsche der Familie bezüglich Hausstrukturen, Materialien und Farben kam zur Sprache, sondern ebenso deren Lebensthemen. Weiter analysierte Marc Lüllmann die Umgebung des Hauses und die Ausrichtung des Grundstücks. Als positiv erwiesen sich dabei unter anderem die nahe gelegene Aare im Norden, das leichte Gefälle des Bodens in Richtung Norden, die gleichmässig rechteckige Form des Grundstücks und die gute Vegetation. «All diese Faktoren spielen bei der Beurteilung des Grundstücks eine wichtige Rolle», sagt Marc Lüllmann. Nahe gelegenes Wasser, Berge oder die Neigung des Grundstücks beeinflussen das Potenzial und Energiegefüge des Grundstücks massgeblich.

Typisch für Vastu ist die Platzierung des Eingangs im Osten. Wie im Feng Shui steht der Osten auch im Vastu für eine hohe solare Energiequalität sowie für Erfolg und Gesundheit.
Typisch für Vastu ist die Platzierung des Einganges im Osten. Wie im Feng Shui steht der Osten auch im Vastu für eine hohe solare Energiequalität sowie für Erfolg und Gesundheit.

Mikrokosmos im Universum

Vastu als indisches Pendant zur chinesischen Harmonielehre «Feng Shui» betrachtet den Raum oder das Grundstück als Mikrokosmos und Teil des Universums, wo sich all seine Kräfte widerspiegeln. «Ein nach Vastu gestalteter Raum steht sowohl mit seiner Umgebung, der Natur und dem Universum, als auch seinen Bewohnern in Resonanz», sagt Marcus Schmieke, Buchautor zahlreicher Bücher über Vastu und Pionier der vedischen Baukunst in Europa. Der südindische Vastu-Meister Dr. Ganapati Sthapathi fasst das Verständnis von Raum und Zeit folgendermassen zusammen: «Wird ein Teil des alldurchdringenden Raumes isoliert und von einer vierwändigen Struktur begrenzt, so wird aus ihm ein lebendiger Organismus und er pulsiert in einer bestimmten Ordnung.» Die jahrtausendealten Sanskritschriften Indiens, den Veden, wo neben spiritueller Philosophie auch alle praktischen Aspekte des Lebens behandelt werden, bilden den Ursprung des Vastu. Zu den wichtigsten dieser Themen gehören die Bereiche Wohnen und Bauen, da das Haus – so Marcus Schmieke – «eine der zentralen Grundlagen des menschlichen Lebens darstellt». Die vedischen Schriften wurden über Hunderte von Generationen bis in unsere Zeit überliefert. Vastu betrachtet sich sowohl als eine Wissenschaft, die von den Sehern und Mystikern des alten Indiens empfangen wurde, als auch als eine Erfahrungswissenschaft, die sie über Jahrtausende immer weiter verfeinert und den natürlichen Umständen angepasst wurde, wie Marcus Schmieke schildert. Mittlerweile ist Vastu auch in der westlichen Kultur angekommen, wenn auch – im Vergleich zum Feng Shui – noch weniger bekannt. Trotzdem gibt es immer mehr Menschen, die sich für eine Bauweise nach den Prinzipien von Vastu entscheiden.

Nordosten und Zentrum

Zurück nach Wangen an der Aare. Nicole und Michael Sieber wünschten sich ein Haus, das den Austausch innerhalb der Familie fördert, aber die Bewohner auch in ihrer Entwicklung unterstützt. Ausserdem wünschte sich das Ehepaar einen Meditationsbereich sowie einen Ofen im Wohnzimmer. Weiter durften die Töchter in ihren Zimmern ihre eigenen Farbwünsche einbringen. Das Haus der Familie Sieber ist zu den Haupthimmelsrichtungen ausgerichtet. «Dem Einbezug der Himmelsrichtungen kommt im Vastu eine grosse Bedeutung zu», sagt Marc Lüllmann, «um das Haus in Einklang mit den Energiegitternetzen der Erde zu bringen». Typisch für Vastu ist die Platzierung des Eingangs im Osten. Wie im Feng Shui steht der Osten auch im Vastu für eine hohe solare Energiequalität sowie für Erfolg und Gesundheit. Die Eingangstüre als Eingangspforte der Vital- bzw. Prana-Energie wurde anhand astrologischer Berechnungen millimetergenau platziert. Neben dem freiliegenden Zentrum des Hauses geniesst der Nordosten in der Vastu-Lehre den höchsten Stellenwert. «Was immer sich im Nordosten befindet oder dort getan wird, wirkt sich auf das gesamte Energiefeld des Hauses aus. Denn die Energien, die im Nordosten ins Grundstück oder ins Haus eintreten, verbreiten sich von dort aus über den gesamten Raum», erklärt Marc Lüllmann. So werden jeder Himmelsrichtung gewisse Qualitäten und Themen zugesprochen, die über das Vastu bearbeitet bzw. gestärkt werden können; dabei spielt der Lauf der Sonne und die Qualität des Sonnenlichts eine wesentliche Rolle. Der Westen beispielsweise steht gemäss Vastu in Relation den Qualitäten eines Stiers und dem Thema Durchsetzungsvermögen. Der Norden hingegen beeinflusse den beruflichen Erfolg und ebenfalls die Finanzen. Der Süden, Südwesten und Westen, wo die ultravioletten Strahlen der Sonne am stärksten sind, werden im Vastu mit der Qualität der Kraft, Ruhe, Erdung und Trägheit verbunden. Zum Vergleich: Der Süden steht im Feng Shui unter anderem für Wärme, Licht und das Denkvermögen (den Durchblick haben), und in der Geomantie – dem westlichen Feng Shui – sind im Süden die Emotionen beheimatet.

Wirkung auf unterschiedlichen Ebenen

Durch die Anordnung der Räume eines Hauses und ihre individuelle Innengestaltung ergibt sich ein Zusammenwirken unterschiedlicher Energien. «Diese Kombinationen mögen für die Bewohner des Hauses förderlich sein, können jedoch auch eine negative Wirkung entfalten», gibt Marcus Schmieke in seinem Buch «Die Kraft lebendiger Räume» zu bedenken. Die Einflüsse des Vastu können sich demnach auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren. Auf der sinnlichen Ebene lassen sich die Räume mit ihren unterschiedlichen Qualitäten und Ausstrahlungen unterscheiden. Auf der energetischen Ebene weisen die Räume verschiedene Lebensenergien auf, die von der Geometrie des Raumes, der Stellung der Möbelstücke, der Verwendung von Materialien und Farben oder der Lage von Türen und Fenstern abhängt. Auf der karmischen Ebene schliesslich verbindet sich die Raum- mit der Zeitqualität. Die Einflüsse der Planeten auf den Raum, die Zeit und den Menschen werden im Vastu ebenfalls berücksichtigt. «Wir arbeiten mit den 27 Fixsternen und berechnen die Hausmasse anhand des Geburtssterns der Bewohner», erklärt Marc Lüllmann. In den Vastu-Schriften heisst es gemäss Marcus Schmieke, dass man in einer bescheidenen Hütte, die nach Vastu errichtet wurde, glücklicher leben könne als in einem Palast, der den Prinzipien des Vastu widerspricht.

«Vastu unterstützt uns im Leben»

Wie wirkt sich Vastu auf die Bewohner aus? Was bedeutet es, ein Haus nach Vastu zu bauen? «Vastu hat zum Ziel, bei den Menschen Impulse auszulösen, Potenziale freizusetzen, Türen zu öffnen und Lebensthemen anzustossen», sagt Marc Lüllmann. Auch gesundheitliche Themen könnten über das Vastu bearbeitet werden, schliesslich stehe jede Himmelsrichtung auch für bestimmte Organe und Symptome. Einen grossen Einfluss auf das Wohlbefinden und das Leben der Bewohner hat das Schlafzimmer. «Hier verbringen wir einen Grossteil des Tages und spüren die Qualität einer Himmelsrichtung am stärksten, denn in der Nacht sind wir im Schlafzustand für solche Energien besonders empfänglich», begründet der Vastu-Berater. Welche Erfahrungen macht die Familie Sieber in ihrem Vastu-Haus? «Wir fühlen uns im Haus sehr wohl. Und wir spüren, wie uns das Haus in unseren Prozessen trägt.» Doch Vastu alleine reiche natürlich nicht aus, um alle Probleme zu lösen, gibt Marc Lüllmann zu bedenken: «Vastu unterstützt uns im Leben. Es löst die Probleme zwar nicht, aber ohne Vastu gestalteten sich manche Herausforderungen schwieriger.» Wie unterschiedlich sich die Ausstrahlung einer Himmelsrichtung auf einen Menschen auswirken kann, erlebte die Familie Sieber bei ihrer jüngsten Tochter. Sie hatte ihr Zimmer zuerst im Nordosten, dem im Vastu eine hohe spirituelle Energie zugesprochen wird. Weil sie in diesem Zimmer unruhig schlief, wechselte sie später ihr Mädchenzimmer in den erdbetonten Südwesten. Dies hat sich laut ihrer Mutter positiv auf den Schlaf des Mädchens ausgewirkt.

Vastu-Einfamilienhaus in Solothurn

Lehre einer fremden Kultur?

Vastu wirkt auch bei bereits bestehenden Häusern, die nicht nach ganzheitlichen Kriterien gebaut wurden. Hier optimiert Marc Lüllmann die Gebäude über die energetische Reinigung, mit bestimmten Gegenständen und Farben, mit Umplatzierungen von Möbeln und mit sogenannten Yantras bzw. energetischen Mandalas, die punktuell eingesetzt werden. Doch wie gut lassen sich die Konzepte des indischen Vastu mit der westlichen Kultur vereinen? Vastu sei keine Frage der Kultur, sagt Marc Lüllmann. «Vastu basiert auf universellen Prinzipien, die alle Menschen wahrnehmen können.» Sogar die Maya-Architektur gehe nachweislich auf Vastu zurück, und auch die Griechen, Ägypter, Chinesen und der römische Gelehrte und Architekt Marcus Vitruvius (1. Jahrhundert v. Chr.) arbeiteten offenbar mit den Lehren aus den vedischen Schriften. «Man hat vielerorts festgestellt, dass in alten Kulturen beispielsweise die Küche stets im Süden oder Südosten platziert wurde – so, wie es auch im Vastu empfohlen wird», berichtet der Vastu-Berater. Ausserdem nehme Vastu Bezug auf den Lauf der Sonne, die ja auch das Verhalten der Tiere und Pflanzen Vögel zwischen Sonnenauf- und -untergang beeinflusse. In diesem Sinne sei Vastu ein Weg, im Einklang mit der Natur zu bauen und zu wohnen. Und es stehe für ein bewusstes Leben zwischen Architektur, Natur, Arbeit, Ernährung und Spiritualität.

Linktipps:

www.vastu-architektur.ch

Buchtipps:

Die Kraft lebendiger Räume - Marcus Schmieke
Marcus Schmieke: Die Kraft lebendiger Räume
November 2015, 380 Seiten, Synergia Verlag, ISBN 978-3-944615-40-0, CHF 46.90

Die acht Himmelsrichtungen und ihre Raum- und Lebensbezüge nach Vastu

Osten:
Raumbezüge: Eingang, Wohnzimmer, Esszimmer, Bad (ohne WC)
Lebensthemen: Karriere, Macht, Mann, Zuversicht, Gesundheit

Südosten:
Raumbezüge: Küche, Heizung, Sauna
Lebensthemen: Liebe, Genuss, beruflicher Erfolg, Allergien, Beziehungsprobleme

Süden:
Raumbezüge: Schlafzimmer, Lager, Speisekammer, Treppenhaus, Wohnzimmer
Lebensthemen: Tod, Lebenssinn, Zielstrebigkeit, Kampfgeist, Verdauung

Südwesten:
Raumbezüge: Elternschlafzimmer, Abstellraum, Lager
Lebensthemen: Schicksal, Standhaftigkeit, Durchsetzungsvermögen

Westen:
Raumbezüge: Esszimmer, Atelier, Kinderzimmer, Bad
Lebensthemen: Popularität, Lethargie, Ängste, Depressionen

Nordwesten:
Raumbezüge: Gästezimmer, Büro, Bad, Wohnzimmer
Lebensthemen: Beziehungen, Freundschaft, Veränderungen, geschäftlicher Erfolg, Geldfluss

Norden:
Raumbezüge: Eingang, Wohnzimmer, Atelier
Lebensthemen: Lebenschancen, Wohlstand, Erfolg, Weiblichkeit

Nordosten:
Raumbezüge: Eingang, Meditationsraum, Wohnzimmer, offener Raum
Lebensthemen: Spiritualität, Ruhm, Reichtum, Immunsystem, Sprache

Quelle: Marcus Schmieke, Die Kraft lebendiger Räume, Synergia Verlag

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